High Potentials & Co. oder Diversity?
Irgendwann sind sie aufgetaucht, die Begriffe «High Potentials», «High Performers» oder wie auch immer die Wortschöpfungen rund um den «War of Talents» genannt werden. Ich stand, obwohl ich mich quasi ein Berufsleben lang direkt oder indirekt mit der Weiterentwicklung von Mitarbeitenden befasst habe, diesen Begriffen gegenüber immer kritisch. Zeitweise bekundete ich Mühe darin, sie voneinander zu unterscheiden. Sie definierten Kategorien von Mitarbeitenden, die ich in Diskussionen ebenfalls benutzt, mich dabei jedoch immer unwohl gefühlt habe.
Natürlich verstehe ich die zugrunde liegende Idee. Ebenfalls unterstütze ich sehr, dass Talente gefördert werden dürfen und eine hohe Leistung zudem grossen Respekt verdient. Was aber ist mit den Mitarbeitenden, die nicht so direkt, oder gerade zu einem bestimmten Zeitpunkt, nicht in dieses leistungsorientierte Schema passen? Gehören sie im Umkehrschluss in diese dritte andere Kategorie, in die der sogenannten «Poor Performers»?
Ich war in einer Firma beschäftigt, in der sehr gut ausgebildete und äusserst professionelle Menschen über viele Jahre wertvolle Arbeit geleistet haben. Aufgrund grosser, struktureller Veränderung musste ich in meiner Funktion als Personalverantwortliche mithelfen, viele eben solcher Kollegen und Kolleginnen zu entlassen. Auch nachdem diese «leider unvermeidbaren» Anpassung erfolgt waren, trafen weiter laufend neue Forderungen der Konzernleitung zur Entlassung von sogenannten «Poor Performers» ein. Bei der Neuausrichtung wollte man(n) nur noch auf «High Potentials» und «High Performers» setzen. Weil es meiner Einschätzung nach im Team keine «Poor Performers» gab, nannte ich bei einer erneuten Forderung willkürlich unterschiedliche Namen, um so die Gesichter hinter der Forderung zu zeigen. Zugegeben, vielleicht war die eine Kollegin oder der andere Kollege zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ganz im Vollbesitz seiner Kräfte (– wie sehr hatten die tiefgreifenden, andauernden Veränderungen einen Einfluss auf ihre Leistungen oder ihre Psyche? –), doch sie waren gleichwohl und vor allem sehr wertvolle Kolleginnen und Kollegen. Es wäre also von der Unternehmensleitung viel ehrlicher und nachvollziehbarer gewesen zu fordern, weitere Stellen abzubauen, anstatt Menschen in bewertende Kategorien zu unterteilen.
Meine Erkenntnis aus diesem Vorgehen war, dass es bei «High Performers» und «High Potentials» nicht um Menschen geht. Die Begriffe werden gewählt, um die opportunistischen Pläne des Unternehmens umzusetzen. Wie auch immer dieses Vorhaben zum aktuellen Zeitpunkt gerade aussehen mag. Es geht allenfalls darum, besser «da zu stehen», allenfalls schlechte Abschlüsse zu rechtfertigen oder ältere Mitarbeitende los zu werden. Die Liste der wahren Gründe ist nicht abschliessend. Welchen Einfluss diese Haltung auf das Miteinander hat und übergeordnet, was dies mit dem Einzelnen macht, wurde und wird jedoch leider meist nicht bedacht oder bleibt unausgesprochen.
Dass ein Team nicht ausschliesslich aus «High Potentials» oder «High Performers» bestehen und dies kein Mensch ein Berufsleben lang sein kann, scheint klar. Dass dieser Wettbewerb, der mit solchen Begrifflichkeiten bei den Mitarbeitenden unweigerlich geschürt wird, sich für die Entwicklung des Einzelnen und somit auch für die Teams auf Dauer als nicht förderlich erweist, ist aufgrund meiner Erfahrungen ebenfalls klar.
Ich erhoffe mir eine Arbeitswelt, wo wir zukünftig auch diesbezüglich ehrlicher und aufrichtiger im Umgang miteinander sein können. Wie wäre es, wenn wir jeden Einzelnen im Unternehmen als das sehen, das sie oder er wirklich ist? Nämlich Menschen mit individuellen Stärken und individuellen Schwächen.
Zum Beispiel der verschlossene und wortkarge Mensch, der unheimlich stark darin ist, Analysen der Märkte zu erstellen und wertvolle Schlüsse abzuleiten, damit andere ihre Talente in Verkaufsgesprächen noch wirksamer einbringen können. Oder die Kollegin, die still und leise eine Arbeit verrichtet, die viel Akribie und Sorgfalt erfordert und die gleichzeitig für alle in der Firma ein offenes Ohr hat, wann immer sie Sorgen haben. Ebenso wertvoll ist es, einen Kollegen zu haben, der zwar etwas Mühe mit der Sorgfalt bekundet, dafür aber Besucher der Firma warmherzig, offen und herzlich begrüsst, sodass sie sich diese wertgeschätzt und willkommen fühlen. Oder der andere Kollege, der komplexe Daten derart fesselnd präsentieren kann, dass selbst mit der Materie nicht vertraute Kollegen die Informationen verstehen und interpretieren können, der aber mit den Prioritäten immer wieder mal seine Schwierigkeiten hat.
Alle diese Beispiele sind weder sogenannte «High Potentials» noch «High Performers» nach Schulbuch. Doch meines Erachtens sind sie ohne Ausnahme für ein Unternehmen unentbehrlich und ungemein wertvoll. Es kann zudem gut sein, dass diese Kollegen auch schon ganz lange in derselben Aufgabe arbeiten und über einen grossen Erfahrungsschatz verfügen, was nach heutigem Verständnis leider auch nicht in jedem Fall für den Kollegen oder die Kollegin spricht, so lange er oder sie nicht das Prädikat «High irgendwas» erhält.
Ich plädiere deshalb auch bezüglich der Einschätzung von Mitarbeitenden für mehr «Diversity» oder ganz einfach, für mehr Menschlichkeit und die wunderbare Vielfalt unserer Art. Sicher gibt es Menschen, die ihre Leistung nicht erbringen oder nicht ins Unternehmen passen. Aber nach welchen Kriterien messen wir und wie gehen wir mit ihnen grundsätzlich um? Wissen wir jeweils, warum er oder sie jetzt gerade keinen guten Beitrag leisten kann und wenn ja, warum? Solche Fragen zu stellen braucht viel Einfühlungsvermögen und bedeutet auch mehr Aufwand für den einzelnen Vorgesetzten oder die einzelne Vorgesetzte. Und letztendlich fordert «Diversity» zu leben auch Mut zur Ehrlichkeit. Fairness gegenüber sich als Vorgesetzten selbst, gegenüber der Unternehmensleitung und vor allem gegenüber den Kolleginnen und Kollegen.
Wenn sich Vorgesetzte die Zeit nehmen, sich mit seinem Gegenüber ernsthaft zu befassen und Vertrauen aufzubauen, dann entstehen ganz andere Gespräche. Sie ermöglichen völlig alternative Entwicklungsmassnahmen, die jedem in der Firma und letztendlich der Firma selbst zu Gute kommen. Individuelle Förderung kann bedeuten, dass der betreffende Mitarbeitende ein Einzelcoaching braucht, oder aufgrund des vertrauensvollen Gespräches mit dem Vorgesetzten bemerkt, dass er oder sie in der aktuellen Aufgabe oder im Unternehmen nicht die Zufriedenheit hat, die er oder sie sich wünscht. Daraus kann sich ergeben, dass die Betroffenen weiterziehen und an einem neuen Ort oder in einer anderen Umgebung plötzlich ihr ganzes Potenzial entfalten oder sich sonst wertvoll einbringen können.
Kurz: Kein Mensch ist ein Berufsleben lang ein «High Performer» oder ein «High Potential» und keine Firma braucht ausschliesslich solche Mitarbeitende. Wenn möglichst viele das arbeiten, was ihren Talenten entspricht, oder einfach gerne tun, was sie machen und darüber hinaus andere unterstützen, dann sind in einem Unternehmen «High Performances» möglich, die viele abgebrühte Finanzler staunen lassen.
Jedes Unternehmen ist so stark, wie die Summer seiner individuell starken Mitarbeitenden.